Hausmusik gestern und heute
Zum wiederkehrenden Tag der Hausmusik am 22. November
Bereits seit 1932 wird der 22. November als „Tag der Hausmusik“ gefeiert. Zu diesem Anlass finden vielerorts Konzerte im privaten und nachbarschaftlichen Rahmen statt, aber auch Musikschulen öffnen speziell an diesem Tag ihre Türen für entsprechende Veranstaltungen. Gleichwohl hat das Musizieren im häuslichen Bereich seine einstige Strahlkraft eingebüßt. Das aktive und eigenständige Musizieren hat insbesondere bei Kindern und Jugendlichen seinen Stellenwert verloren, und dies obwohl alle wissen, wie entscheidend Musik die Entwicklung von Heranwachsenden positiv und nachhaltig beeinflusst.
Einen kleinen ermutigenden Aufschwung gab es während der Corona-Pandemie als Familien als Ersatz für verwaiste Veranstaltungsorte damit anfingen, Instrumente zu kaufen und mehr und mehr selbst Musik zu machen. Und auch die Künstler selbst nutzten diesen Rahmen und zogen dabei die Möglichkeiten der neuen Medien hinzu. So streamte der Violinist Daniel Hope seine Hauskonzerte auf den sozialen Onlinekanälen und der Pianist Igor Levit gab während der Ausgangsbeschränkungen Konzerte in den eigenen vier Wänden, die er ebefalls streamte, und gewann damit ein begeistertes Publikum.
Levits Instrument, das Klavier, stand schon im 18. Jahrhundert im Mittelpunkt instrumentaler Hausmusikkonzerte, die sich damals wachsender Beliebtheit erfreuten – und die Komponisten taten das ihre hinzu. Zu den wenigen Werken, die beispielsweise zu Lebzeiten von Johann Sebastian Bach in Druck erschienen, gehören seine Sammlungen für Tasteninstrumente, die er selbst „Clavierübungen“ nannte. „Denen Liebhabern zur Gemüths Ergoetzung verfertiget“ schreibt Bach da auf die Titelseite. Damit war nicht nur klar für wen er hier komponierte. Auch den Sinn und Zweck des häuslichen Musizierens bringt Bach auf den Punkt: Es geht darum, im häuslichen Musizieren Freude zu finden.
Dass der angesprochene Musik-Liebhaber gleichwohl ein anspruchsvoller Musiker sein sollte bzw. es dank Bachs elaborierten „Clavierübungen“ werden kann, haben seit der Veröffentlichung Ende der 1720’er Jahre Generationen von heranwachsenden Musikern bewiesen. Und auch heute noch stehen musikliebende Familien in der Tradition des anspruchsvollen Musizierens.
Bei Familie Grossmann: Mit Streichinstrumenten und dem Klavier aufwachsen
„Alle Kinder haben mit dem Klavier und mit einem Streichinstrument angefangen. Wir haben das gleich zusammen gemacht“, sagt Cornelius Grossmann, wenn man ihn nach der musikalischen Ausbildung seiner 5 Kinder fragt und ergänzt „das ist eigentlich wie eine weitere Sprache lernen.“ Neben dem Talent seiner Kinder ist es sicherlich auch die Tatsache, dass die tägliche Musikausübung gar nicht weiter hinterfragt wird; sie gehört eben dazu wie Zähneputzen.
Begünstigend wirkt dabei auch das familiäre Umfeld, in dem Musik schon immer als einen bereichernden Teil des Lebens angesehen und praktiziert wurde. „Meine Mutter war Geigenlehrerin und mein Vater hat Klavier gespielt“, erzählt der Jurist. Er selbst ist mit Musik aufgewachsen, war in seiner Jugend unter anderem Mitglied im Bundesjugendorchester. Seine Frau wiederum, Katharina Grossmann, musiziert als freiberufliche Geigerin in verschiedenen Ensembles.
So erklärt sich auch die Affinität zu den Streichinstrumenten. Einer der zwei erwachsenen Söhne, Jonathan, spielt Cello, war Mitglied im Bundesjugendorchester und studiert mittlerweile in Wien Musik. Sein Bruder Caspar spielt Bratsche und war ebenfalls Mitglied im Bundesjugendorchester. Die älteste Tochter, Tabea, studiert Jura, spielt Geige und singt in einem Vokalensemble.
Und dann sind da noch die beiden Jüngsten. Die zwölfjährige Anna spielt ebenfalls Geige, ihre neunjährige Schwester Clara hat die Bratsche gewählt. „Ich durfte von Anfang an entscheiden, was ich will“, erklärt Clara selbstbewusst, „die Geige war mir einfach zu hoch und das Cello dann doch ein bisschen zu tief, da dachte ich, ich nehme einfach das, was in der Mitte liegt, die Bratsche“. Natürlich ist es aufgrund der sehr hohen Ansprüche an Gehör und Feinmotorik, noch einmal eine besondere Herausforderung gerade ein Streichinstrument mit fünf bzw. sechs Jahren zu erlernen.
Die Kinder bleiben aber mit Freude dabei, was auch daran liegt, dass sie zusammen mit ihren Geschwistern und Eltern Hausmusik machen können. „Allein ist das Üben manchmal nervig“, gesteht Clara, „aber wenn man dann zusammen spielt, macht es sehr viel Spaß!“ Auch an der Musikschule City West des Berliner Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf weiß man das. Und so nimmt Clara dort zweimal im Jahr an einem Kammermusik-Workshop teil. Die dort gemachten Erfahrungen fließen wiederum ins häusliche Musizieren ein.
Für die Hauskonzerte in der Familie bieten sich bei den Grossmanns z.B. runde Geburtstage der Großeltern an. Beim letzten kürzlich stattgefundenen Geburtstagskonzert bildeten die Kinder ein eigenes Ensemble. „Unsere Fünf haben Mozarts g-Moll Streichquintett gespielt, da hat auch die Neunjährige an der zweiten Bratsche kräftig mitgemacht“, erzählt Cornelius Grossmann mit ein wenig Stolz. Dennoch gelte dabei „dass das nicht perfekt sein muss. Es muss Spaß machen und darf nicht in Stress ausarten. Wir wollen mit Spaß motivieren, genau das sollen unsere Kinder verinnerlichen.“ Hinzu kommt: Im Hausmusikensemble fügen sich die Teile zum Ganzen, insbesondere wieder für die Jüngste der Familie: „Allein ist meine Stimme nicht so interessant“, erklärt Clara, „das ist aber völlig anders, wenn man dann am Ende gemeinsam spielt. Und es ist auch leichter, denn ich kann mich an den anderen Stimmen orientieren.“ An dieser Stelle erzählt Katharina Grossmann über ihre eigenen Erfahrungen beim häuslichen Musizieren: „Ich selbst habe viel mit meinen Geschwistern musiziert, das hat mir unglaublich viel Freude bereitet und mich auch während meiner ganzen Jugend eng mit meinen Geschwistern verbunden.“ Musik bei gegebenen Anlässen in der Familie zu machen, habe, so Katharina Grossmann, seine ganz eigenen Qualitäten, denn „ich erlebe, dass dies unsere Familienfeste unheimlich bereichert. Das sind auch die Dinge, an die man sich später immer wieder erinnert“, betont sie.
Mit Freunden musizieren
Hausmusik bedeutet bei den Grossmanns aber auch die Möglichkeit, weitere soziale Kontakte zu knüpfen. Da entstehen z.B. für die Kinder in den Schul- und Jugendorchestern neue Freundschaften, wodurch sich auch die dazugehörigen Familien kennen und schätzen lernen. „Wir haben so viele Freunde gewonnen“, sagt Cornelius Grossmann, „die teilweise aus ganz anderen Gebieten kommen. Mit denen wären wir ansonsten sicherlich nie zusammengekommen.“ Und dann erinnert sich Grossmann an die Hauskonzerte aus seiner Jugend, die in seiner Familie, als auch die von seiner Frau. „Das ist bei uns beiden so, dass die Freunde, die wir über die Musik kennen gelernt haben, nach wie vor unsere ältesten und besten Freunde sind. Das wünschen wir unseren Kindern natürlich auch.“ An dieser Stelle mischt sich die zwölfjährige Anna ein, die wie ihre große Schwester Tabea Geige spielt. Ihr schwebt vor, endlich die Lieblingsoktette ihrer Schwester Tabea kennen zu lernen. Auch dafür freilich ließe sich das Familienensemble durch neu gewonnene junge Musikenthusiasten aus dem wachsenden Freundeskreis der Kinder erweitern. Anna spielt im Orchester ihrer Schule und ist außerdem Stipendiatin des Julius-Stern-Instituts an dem junge Musiktalente besonders gefördert werden. Ihr musikalischer Ehrgeiz ist auch durch die Geschwister motiviert: „Meine beiden Brüder Jonathan und Caspar haben im Bundesjugendorchester gespielt“, erzählt Anna, „da habe ich viele Konzerte mit ihnen gehört und das hat mich motiviert zu üben. Und jetzt weiß ich: Da will ich auch hin!“ Dem häuslichen Musizieren kann Anna wiederum ganz eigene Qualitäten abgewinnen. „Wenn wir hier im Quintett spielen“, sagt sie „ist das anders, weil jeder etwas sagen kann. Ich kann auch vorschlagen, bestimmte Dinge mal anders zu spielen. So etwas geht im Orchester halt nicht.“
Hausmusik durch die Jahrhunderte
Annas kleine Schwester wiederum hat für sich auch das Singen entdeckt, sie singt im Kinderchor „Cantores minores“ der zum „Berliner Figuralchor“ gehört. Auch hier steht die Vermittlung der Freude beim Musizieren im Vordergrund. „Das ist toll“, erklärt Cornelius Grossmann, „Claras schönster Tag in der Woche ist für sie, wenn sie Chorprobe hat“.
In diesem Chor wachsen die Kinder in die großen kirchensinfonischen Werke sozusagen hinein. Bei den Aufführungen der Bach’schen Kantaten und Passion beispielsweise, sind auch schon die Kleinen bei den Chorälen dabei. – So haben sich die Zeiten geändert! Als Bach und seine Vorgänger kirchenmusikalische Chorwerke komponierten, war Frauen und Mädchen die Teilnahme an öffentlichen Aufführungen im Kirchenraum noch weitgehend untersagt. Und auch in den Kapellen oder den Stadtpfeifereien, die Anno dazumal aufspielten, wollte man Frauen und Kinder nicht sehen. Genau damit begann übrigens auch die Geburtsstunde der Hausmusik, denn im häuslichen Rahmen konnten Frauen und Kinder ihren musikalischen Ambitionen nachgehen. So etablierte sich seit dem Spätmittelalter das Musizieren in den eigenen vier Wänden und dies mit wachsender Beliebtheit. Schon im 17. Jahrhundert erschienen eigene Publikationen die so schöne Namen wie „Geistliche Hausgesänglein“ oder „Musikalische Kirch- und HaußErgetzlichkeit“ trugen. Das Singen von geistlicher Musik im privaten Kreis fand durch Martin Luther einen maßgeblichen Anstoß, der ja auch selbst Urheber zahlreicher Kirchenlieder war. Solche musikalischen Hausandachten, die jenseits von Schulen und Kirchen stattfanden, folgten zugleich dem reformatorischen Ideal „bis orat, qui cantat“ – wer singt betet doppelt. Weiter Publikationen wie z.B. „Geistliche deutsche Lieder. D. Mart. Lutheri: Und anderen frommen Christen“ legten Wert darauf, dass die „Gesänge von einem jeden Hauß vatter mit seinen Kindern“ leicht gesungen werden konnten. Insofern wiederum ist die Wahl des 22. November als Tag der Hausmusik gut gewählt, denn dieses Datum ist zugleich Namens- und Gedenktag der heiligen Cäcilia von Rom, die als Schutzpatronin der Kirchenmusik verehrt wird.
Zu Hause bei den Wiener Klassikern
Schaut man sich Bilder aus dem 16. und 17. Jahrhundert an, die fromme Christen beim hausmusikalischen Stelldichein zeigen, dann gewinnt man den Eindruck hier bereits Zeuge einer Vorwegnahme der biedermeierlich Familienidylle zu sein, wie sie sich später im 19. Jahrhundert ausprägte. In dieser Zeit des familiären Rückzugs gehörte Hausmusik zum vollkommenen Familienbild selbstverständlich dazu. Doch bevor man nun in Versuchung gerät, all dies mit einem milden Lächeln leicht abzutun, darf man eines nicht vergessen: Für Komponisten wie Mozart, Beethoven und Schubert war die Institution des Hauskonzerts wichtiger Bestandteil des eigenen künstlerischen Fortkommens. Die Hauskonzerte fanden hier allerdings in den Räumen der Wiener Adels- und Bürgerhäuser statt. Im Rahmen eines nicht selten halböffentlichen Musizierens trafen sich Liebhaber und Dilettanten mit Komponisten und Virtuosen. Diese geselligen musikalischen Veranstaltungen mit hohem Anspruch entstanden auch in anderen großen Städten Europas und natürlich auch an kleinen Orten wie beispielsweise in Goethes Weimarer Umfeld. Wie künstlerisch fruchtbar solche hausmusikalischen Institutionen waren, lässt sich allein schon an der Wiener Streichquartett-Tradition ablesen. Begründet wurde diese von dem Geiger Ignaz Schuppanzigh, dessen gleichnamiges Quartett als das erste professionelle Streichquartett der Musikgeschichte gilt. Lange Zeit stand dieses Quartett im Dienst des Grafen Rasumowsky. In seinem Haus wurden im Rahmen von privaten Veranstaltungen exklusive „Quartett-Produktionen“ präsentiert. Als Mäzen war Rasumowksy mit Mozart, Haydn und Beethoven befreundet, sodass seine Hauskonzerte quasi zum kreativen Ausgangspunkt für großartige Meisterwerke der Musikgeschichte wurden. Beethoven widmete dem Grafen seine drei „Rasumowsky-Quartette op. 59“. Und so war es auch für Schubert ein Anliegen, sein „Rosamunde-Streichquartett op. 29“ dem Schuppanzigh-Quartett zu widmen. Im hausmusikalischen Rahmen fand Franz Schubert auch seine glücklichste künstlerische Bestätigung. Die Musikfreunde des Komponisten schufen für ihn in den legendären „Schubertiaden“ ein intimes Umfeld, in dem der sensible Komponist seine kammermusikalischen Meisterwerke als erstes einem ausgesuchten Wiener Freundeskreis vorstellen konnte.
Katharina Grossmann, in deren häuslichem Familien- und Freundeskreis einige dieser Werke ebenfalls bewundert und aufgeführt werden, bringt es schließlich so auf den Punkt: „Ich finde es eine riesige Bereicherung für unser Familienleben, dass wir schon immer Musik gemacht haben. Hier eröffnet sich eine Welt, die das Leben vielfältiger und schöner macht.“
von Arne Sonntag