#MusikUndGesundheit – Das „Ensemble inklusiv“ in Aktion
Leuchtende Augen, pulsierende Aufregung und strahlende Gesichter: Selten habe ich beim Musizieren so vielseitigen Ausdruck von Freude bei gleichzeitig größter Ernsthaftigkeit erlebt. Am 10. September 2024 – zufällig einem Tag, an dem im Bundestag geplante Änderungen des Behindertengleichstellungsgesetzes thematisiert werden – besuche ich das „Ensemble Inklusiv“ mit seinen Leitern Heinrich Link und Steffen Höschele in der Musikschule Fanny Hensel in Berlin Mitte. Das Ensemble steht allen Interessierten offen, ob mit Beeinträchtigung oder ohne, die gemeinsam Musik machen möchten. Unter den aktuell 13 Mitgliedern sind Menschen mit verschiedenen Behinderungen, von jungen Erwachsenen bis Personen im Rentenalter.
Die Probe startet mit Rhythmen sprechen und Bodypercussion im Stuhlkreis. Ein paar kleine Holperer, und schon finden alle in den gleichen Rhythmus. Nach diesem kurzen, gemeinsamen Eingrooven dürfen sich alle ein Instrument ihrer Wahl aussuchen. Wir haben heute drei Percussionist:innen, eine Person sitzt am Keyboard, auch das Xylophon und eine Gitarre kommen zum Einsatz. Die Tischharfe bleibt heute unbesetzt. Während Heinrich Link die Gruppe anleitet, steuert Steffen Höschele kurze Intros am Klavier bei, nach denen alle anderen mit einsetzen.
Raum für Improvisation
Musikalische Vorerfahrungen braucht man für dieses Ensemble keine, lediglich die Freude an der Musik. Mitmachen dürfen und sollen alle, denn Musik ist Teil des öffentlichen kulturellen Guts, und „zur Öffentlichkeit gehören alle“, wie Link in einem Gespräch mit mir deutlich macht. Die Hürden für eine Teilnahme sollen möglichst niedrig sein. Die Form der Musik sollte daher einfach gestaltet sein, so dass die Ensemblemitglieder sie schnell und intuitiv erfassen können. Es geht nicht darum, Stücke genau so zu interpretieren, wie sie in Noten festgehalten sind, auch wenn das Ensemble entlang bekannter oder unbekannter Songs und Werke musiziert. Vielmehr bringen die Mitglieder des Ensembles intuitiv ein, was sie können und wollen. Denn es „funktioniert nicht, wenn das Werk den Spielerinnen und Spielern diktiert, was sie genau tun müssen“, sagt Link dazu. So sind bekannte Melodien in den Proben und Aufführungen des Ensembles zwar zu erkennen, „aber was man drum herum hört, ist unseres!“ Hier geht es um Individualität, Kreativität und Spontanität: Und das macht Musik ja so einzigartig.
Über die Musik kommen die Mitglieder des „Ensemble inklusiv“ auch mit den anderen Klangkörpern der Musikschule in Kontakt: Bei den Weihnachtskonzerten stehen alle – Chor, Orchester und das „Ensemble inklusiv“ – gemeinsam auf der Bühne und musizieren. Und wie funktioniert das? „Der Wunsch, sich musikalisch auf was zu einigen, ist bei allen da“, erklärt Link. Man verabredet grundsätzliche musikalische Differenzierungen wie leise oder laut, schnell oder langsam. Diesen Rahmen für ein Musikstück kennen alle Mitwirkenden und halten sich daran. Doch daneben bleibt viel Raum für Improvisation.
Kreative Hilfsmittel
Zurück in die Probe: Leistungsdruck gibt es hier nicht. Wenn mal was nicht klappt, gibt Heinrich Link einen Tipp oder probiert mit einzelnen Musiker:innen oder Instrumentengruppen einfach aus, wie man zusammenfinden könnte. Es geht mehr um den Prozess als um das Ergebnis – das Miteinander steht hier im Fokus und die geteilte Freude an den Klängen und Rhythmen. Noten braucht es dafür kaum. Stattdessen gibt es andere, kreative Hilfsmittel: Am Keyboard zum Beispiel gibt es eine Hilfestellung auf der Klaviatur mit Farben und Buchstaben. Auf dem Notenpult darüber liegt ein Blatt, das genau diese Farben in den zeitlichen Abständen zeigt, wie es zum ausgewählten Stück gut klingt. So können die Keyboardtasten auch ohne Notenkenntnisse passend gedrückt werden. Erlaubt ist ohnehin alles: Getrommelt wird auf der Cajón mit Zeigefingern oder der flachen Hand, die Klangbausteine oder Trommeln werden mit Sticks oder Schlägeln gespielt. Wann das Stück vorbei ist, spüren alle ganz genau – durch Kommunikation und musikalische Intuition.
Für Ensembleleiter Heinrich Link ist Selbstwirksamkeit bei dieser Art des Musizierens das Schlüsselwort: „Zu merken, dass man wirkt, ist ja unter Umständen etwas total Unbekanntes für Menschen. Ich würde sogar behaupten, dass unser ganzes Selbstvertrauen auf Selbstwirksamkeitserfahrung beruht.“ Selbstvertrauen gewinne ich hier auch, sogar nur vom Zuhören. Das Potenzial von inklusivem Musizieren ist also groß, und das Bewusstsein etwa für die Kraft der „Community Music“, die sich auch und vor allem als sozialer Prozess versteht, wächst. Dennoch: Die Angebote für inklusives Musizieren könnten und sollten viel zahlreicher sein, es scheint hier noch viele Vorbehalte zu geben. Für Link ist die Arbeit mit den „Ensemble inklusiv“ „einer der besten Unterrichte, die ich hier an der Musikschule gebe. Er macht Spaß und bewirkt viel.“ Als wir uns nach der Probe verabschieden, habe ich vor allem eins gelernt: Es gibt trotz Einschränkungen vielfältige Möglichkeiten, am Musikleben teilzuhaben und teilzunehmen. Dafür sind Kreativität und Offenheit gefragt, und zwar von allen.
Das „Ensemble inklusiv“ tritt zum Abschluss der Fachtagung „Musik und Gesundheit“ des Deutschen Musikrats am 18. Oktober 2024 auf und präsentiert die zuletzt erarbeiteten Stücke. Wir freuen uns schon sehr darauf!
Josephine Pritz