6 Wochen Musik - ein Sommer mit dem Bundesjugendorchester
Ein Bericht von Juliane Gleich
© JMD/Ufuk Arslan

Das kann doch nicht wahr sein – der Koffer geht einfach nicht zu, obwohl ich schon draufsitze. Ein paar Klamotten müssen wieder raus und ich packe Waschmittel ein, sonst wird das nichts. Ich werde fast 6 Wochen mit dem Bundesjugendorchester unterwegs sein, da sollte man für jedes Wetter etwas dabeihaben. Andererseits ist es Hochsommer und beim vielen Spielen und Proben sowieso immer warm – also raus mit den vielen Pullis. Die Noten wurden allen Orchestermitgliedern schon längst per Post geschickt. Meine Violinstimme liegt als Heft geklebt schon im Geigenkasten bereit. Wir haben ein tolles Programm vor uns: zuerst die Operette „Fledermaus“ und anschließend ein Sinfonieprogramm unter dem Motto „Harmonie des Glaubens“.
In Weikersheim angekommen geht es auch schon direkt los. Wir stürzen uns in die Proben und in die Welt der Fledermaus. Unser Regisseur erklärt uns sein Bühnenkonzept und natürlich auch die Handlung der Fledermaus. In der Operette geht es um rauschende Feste, Liebeleien, Verwechslungen und Intrigen und vor allem um ausschweifende Walzertänze. Da zeichnet sich ein kleines Problem ab: Die meisten von uns haben noch nie Walzer getanzt. Deswegen bekommen wir alle einen Walzerkurs mit dem Choreographen Giovanni verordnet. Sogar an einem Schauspielkurs dürfen wir teilnehmen.
An der Operette ist besonders spannend, dass wir als Orchester gar nicht unbedingt im Mittelpunkt stehen. Zwar beginnen wir mit einer mitreißenden Ouvertüre, im weiteren Verlauf stehen dann aber die Sänger:innen bzw. Schauspieler:innen im Vordergrund. Unsere Aufgabe dabei ist es, uns zurückzunehmen und die Bühnendarbietung optimal zu unterstützen. Wir stellen schnell fest, dass guter Kontakt zwischen Bühne und Orchester hier das A und O ist, gegen Ende der Proben sind wir dann für alle Überraschungen gewappnet.
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Die Premiere rückt näher – und das Wetter wird schlechter. Die Nervosität bei allen Beteiligten steigt, da unsere Konzerte Open-Air stattfinden sollen. Die Streicher und Holzbläser haben immer eine Plastiktüte für ihr Instrument parat, falls es im Orchestergraben zu regnen beginnen sollte. Obwohl uns das Wetter einige Male ein wenig im Stich lässt und es abends richtig kalt wird, kommt in den historischen Gemäuern von Schloss Weikersheim eine einzigartige Stimmung auf. Das Publikum genießt – teilweise gemütlich in Decken eingehüllt – die prunkvollen Kulissen, die humorvolle schauspielerische Darbietung und die mitreißende Musik.
Eines ist ganz neu für mich: Da es auch längere Redepassagen gibt, hat man sogar im Orchestergraben ab und zu etwas Zeit und damit Gelegenheit, den Blick schweifen zu lassen und der Handlung zuzuschauen – auf der Bühne und natürlich auch im Publikum, was fast noch interessanter ist.
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Der krönende Abschluss unseres Operettenprojekts ist die Dernière. Trotz der anstrengenden Arbeit der letzten Wochen bleibt noch Zeit für Spaß. Innerhalb des Orchesters tauschen Jungen und Mädchen die Klamotten und wir haben traditionell ein paar kleine Scherze auf Lager, von denen unser Dirigent Dirk Kaftan noch nichts ahnt. Die Stimmung ist dementsprechend locker und fröhlich. Schade, dass die Operette schon bald wieder vorbei ist.
Zwischenzeitlich ist in Weikersheim Verstärkung angekommen. Für das bevorstehende Sinfonieprogramm ist nämlich eine viel größere Orchesterbesetzung nötig. Jetzt sind wir vollzählig, mit fast 100 Musiker:innen beginnen wir die Arbeit an unserem Programm mit dem Titel „Harmonie des Glaubens“. Ich freue mich sehr, dass einige meiner Freundinnen und Freunde noch dazugekommen sind. Etwa zwei Wochen werden wir an verschiedenen Stationen in ganz Deutschland und sogar im Ausland mit unserem Programm auf Tournee sein. Es wird anstrengend werden, ab jetzt sind wir ständig unterwegs, von Stadt zu Stadt, oft auch bis spät in die Nacht. Nur nichts vergessen und immer schön organisiert bleiben! Jede Minute im Bus wird sinnvoll genutzt – nämlich zum Schlafen. Zum Glück haben wir darin alle schon Übung… Trotzdem bedeutet die Tournee eine große Herausforderung für unsere Betreuerinnen und Betreuer, die immer das große Ganze im Blick behalten müssen.
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Innerhalb des Orchesters haben wir eine besondere Gemeinschaft und das ist für mich das Schönste am Orchesteralltag: Nur hier kann man mit so vielen Gleichgesinnten zusammenkommen. Egal wie schwer ein Werk zu spielen ist, kein Problem fürs Bundesjugendorchester und dabei wird es niemals langweilig. Uns verbindet das Privileg, gemeinsam ein großartiges Projekt verwirklichen und somit eine musikalische Botschaft weitergeben zu dürfen.
Auf dem Programm stehen Werke von Fazil Say, Leonard Bernstein und Gustav Mahler. Jeder der drei Komponisten gehört einer der drei Weltreligionen an, jedes Werk hat seine ganz eigene Charakteristik. Unser Dirigent Dirk Kaftan gibt sich viel Mühe, uns die Bedeutung der einzelnen Werke näherzubringen.
Während bei Fazil Say die Schlagwerker mit komplexen Rhythmen mystische Klangwelten erzeugen, vertont Bernstein Wirken und Schicksal des Propheten Jeremiah und des biblischen jüdischen Volkes in drei wechselvollen Sätzen. Während der 1. Satz langsam und majestätisch die Verzweiflung des Propheten aufnimmt, erzeugt der 2. Satz in aufwendiger Rhythmik einen mitreißenden Strom, dem sich niemand entziehen kann. Der 3. Satz mündet in tieftraurige Klänge, die den hebräischen Klagegesang der Mezzo-Sopranistin untermalen.
In seiner 4. Sinfonie verarbeitet Gustav Mahler seine persönliche Glaubensgeschichte und sein Aufwachsen – himmlische Klänge wechseln sich ab mit plötzlich hervortretenden Schrecken und Zweifeln. Dieses Wechselspiel endet im 4. Satz in einer kindlich naiven Vorstellung vom Paradies, in der die Zweifel leiser werden. Mahler lässt in diesem Satz die Vorstellung vom himmlischen Leben durch eine Gesangsstimme lebendig werden.
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Trotz der Gegensätzlichkeit der drei Werke zeigt sich bei der musikalischen Erarbeitung, dass sie nebeneinander bestehen können und sich gegenseitig zu einer einzigartigen Einheit ergänzen. Das ist das wahnsinnig Tolle an der Musik: Sie schafft eine Harmonie, die in unserer alltäglichen Wirklichkeit leider oft unerreichbar zu sein scheint.
Bei jedem Konzertabend spüren wir aufs Neue, wie der Funke auf das Publikum überspringt. Unsere Zugabe haben wir mit Hilfe von Juri de Marco selbst komponiert und das Publikum singt unter unserer Anleitung mit. Wir spüren förmlich, wie das Publikum in Bann gezogen wird.
Unser Auftritt im Konzerthaus Berlin ist für mich ein besonderer Höhepunkt. Der festliche Saal bietet vollbesetzt eine ganz besondere Atmosphäre, die Energie ist mit Händen zu greifen, am Schluss bekommen wir Standing Ovations. Dieses Konzert werde ich sicher niemals vergessen.
Beim unserem letzten Auftritt in Kloster Eberbach gibt jeder noch einmal alles. Trotz der schwierigen Akustik in der Basilika gelingt uns ein sehr stimmungsvoller Abend. Sechs intensive Wochen gehen zu Ende, Abschiedsschmerz macht sich breit. Wir wollen nicht, dass alles schon zu Ende ist und so fließen die ersten Tränen schon gegen Ende der Zugabe. Da hilft nur die Aussicht auf die nächste Arbeitsphase.
©Alexander Kremer
