25. Juni 2025
Wer entscheidet, wer gehört wird?
Community Music: ein Motor für Wandel. Essay von Anna-Sophia Kraus
Das Prinzip der Kulturellen Demokratie basiert auf der Überzeugung, dass jeder Mensch Kultur hat – und ein Recht darauf, sich künstlerisch auszudrücken. Es geht über den bloßen Zugang zu bestehenden Kulturangeboten hinaus und stellt die Fragen: Wer gestaltet Kultur? Wer fällt Entscheidungen? Wessen Stimmen sind hörbar– und wessen nicht? Community Music kann Kulturinstitutionen dabei helfen, sich für diese Fragen zu öffnen. Anhand von Praxisbeispielen aus London, Dortmund und Augsburg zeigt sich, wie Community Music Räume für Beziehungen stiften, Institutionen in Bewegung bringen und gemeinsames Lernen anstoßen kann.
„Always in orbit, perpetual motion, follow your breath, find your rhythm and –“ es folgt eine Pause – dann beginnt der Refrain erneut. Mit diesen Zeilen eröffnete die Band The Messengers 2025 ihren Auftritt im voll besetzten Milton Theatre der Guildhall School of Music and Drama in London. Die Gruppe vereinte Menschen, die obdachlos waren, Musikstudierende und ein Facilitator-Team um die künstlerische Leitung und Gründerin Sigrún Sævarsdóttir-Griffiths. Schon nach der ersten gemeinsamen Probe war ein Gefühl von Zusammenhalt entstanden. Wie funktioniert das bei einer Gruppe von 30 Menschen, deren Lebensrealitäten auf den ersten Blick so unterschiedlich sind?
Ein Blick auf den Prozess lässt erste Antworten aufscheinen: Gemeinsam wurde improvisiert, Scrabble gespielt, gegessen, musiziert – und reflektiert: Die Zusammenarbeit in der Band The Messengers basierte auf der Gleichwertigkeit aller Beteiligten, auf einem geteilten kreativen Prozess und transparenten künstlerischen Entscheidungen. Songwriting fand in Kleingruppen statt und durchlief kollektive Feedbackschleifen. Für Sævarsdóttir-Griffiths ist klar: „Wir lernen sehr viel, wenn wir zusammenkommen. Wir alle brauchen echte Beziehungen zu Menschen mit unterschiedlichen Lebensrealitäten. Und Musik ist der beste Weg, solche Beziehungen aufzubauen, weil sich der Dialog dadurch völlig verändert.“ Die Band-Praxis spiegelt somit zentrale Prinzipien kultureller Demokratie wider: Sie stellt kein künstlerisches Ideal in den Mittelpunkt, sondern beginnt bei den Themen und Potenzialen der Beteiligten.
Seit 2012 ist die Band Teil eines Wahlfachs, doch die meisten künstlerisch Studierenden kommen aus Überzeugung, ohne dafür Leistungspunkte zu erhalten. Auch ehemalige Studierende sind dabei, die nach Wegen suchen, auch nach dem Studium involviert zu bleiben. Sævarsdóttir-Griffiths beschreibt die Band als einen sicheren Raum, in dem Belastungen – seien sie physischer, psychischer oder finanzieller Art – losgelassen werden können. Für die Studierenden könne das der Druck sein, der durch die Ausbildung an den Musikhochschulen entstehe. Für die Gründerin selbst ist das Projekt ein Lernort: Sie habe mehr Demut und Empathie für Menschen entwickelt, sagt sie rückblickend.
The Messengeres © Paul Cochraine

Die Band stiftet Verbindungen, die im Alltag kaum bestehen – und verändert dabei nicht nur Haltungen der Beteiligten, sondern auch das Selbstverständnis der Guildhall School, die sich inzwischen als sozial engagierte Hochschule definiert. Sævarsdóttir-Griffiths bringt es auf den Punkt: „Institutionen brauchen derartige Projekte für ihr eigenes ‚Wellbeing'. Sie brauchen eine Verbindung zur Welt da draußen – zu einer Welt, die nicht die gleichen Privilegien genießt wie Musikhochschulen.“
Eine Brücke zwischen Konzerthaus und Nachbarschaft
In Deutschland ist Community Music im Vergleich zur britischen Grassroots-Bewegung der 1960er Jahre noch eine junge Strömung. Eine Vorreiterrolle nimmt das Konzerthaus Dortmund ein, das 2019 mit der Intendanz von Raphael von Hoensbroech eine eigene Abteilung für Community Music etablierte. Das mittlerweile vierköpfige Team arbeitet dort vor allem im benachbarten Brückviertel.
Matt Robinson, der die Abteilung von 2019 bis 2024 leitete und eigene Erfahrungen aus seiner britischen Heimat einbrachte, berichtet: „Die Strategie war erst einmal, loszuziehen und mit allen im Brückviertel zu sprechen.“ Das Programm richtet sich bis heute nach den Bedarfen in der Nachbarschaft und wahrgenommenen Lücken im bisherigen Angebot des Konzerthauses. Ein Beispiel ist „Sing Sing Sing“, ein Chorprojekt, das speziell für Menschen ab 60 Jahren entwickelt wurde. Mittlerweile ist der Chor ein fester wöchentlicher Treffpunkt Montagvormittag im Foyer des Konzerthauses: gemeinsames Singen als Ort der Begegnung – mit Kaffee, Kuchen und Gesprächen.
Robinson versteht seine Rolle auch als Impulsgeber innerhalb der Institution: „Meine Aufgabe ist es nicht nur, in Communities zu arbeiten, sondern auch institutionellen Wandel anzustoßen – besonders im Hinblick auf Inklusion und Diversität.” Werte sollen nicht nur benannt, sondern auch gelebt werden: „Wenn wir sagen, dass jeder willkommen ist, dann muss es auch so sein, und darauf achten wir.“ Die größte Herausforderung bestand für Robinson darin, ein Umdenken innerhalb des Hauses anzustoßen – hin zu einer Haltung, in der Community Music als Teil des Hauses mitgetragen und unterstützt wird. Erste Veränderungen sind bereits sichtbar: „Das Konzerthaus Dortmund ist durch Community Music offener, einladender und stärker mit dem Ort verbunden – aber noch nicht vollständig. Es wird noch zehn, fünfzehn Jahre dauern, bis das wirklich erreicht ist. Doch intern versteht sich das Haus nun anders und reflektiert dabei: Was ist die Aufgabe eines Konzerthauses – und was ist unsere Rolle als Abteilung für Community Music?“
Startimpulse und strukturelle Verankerungen
Dass solche Fragen auch im Kontext öffentlich finanzierter Theater mit eigenem Orchester an Relevanz gewinnen, zeigt das Beispiel des Staatstheaters Augsburg mit den Augsburger Philharmonikern. Seit der Sanierung des Großen Hauses 2016 bespielt das Theater Interims-Spielstätten in verschiedenen Stadtvierteln. Diese räumliche Öffnung hat zugleich neue Formen der Begegnung angestoßen: Die Plattform „Plan A“, die seit der Intendanz von André Bücker besteht, stärkt seit 2017 die Verbindung zwischen Institution und Stadtgesellschaft und schafft einen Ort der Begegnung, Vernetzung und Mitgestaltung.
Für Veränderungen braucht es auch mutige Partner:innen. Aus einer ersten Kooperation mit dem Stegreif Orchester im Jahr 2022 entwickelte sich die Workshop-Reihe „change“ in Augsburg. Ausgangspunkt war die Fragestellung: Wie wünschen wir uns eine Welt, in der wir aufwachsen? Die Musiker:innen des Stegreif Orchesters improvisierten gemeinsam mit Jugendlichen des Augsburger Klimacamps sowie in den Folgeprojekten mit jungen Erwachsenen mit Down-Syndrom und aus einer Förderschule. Es entstanden Songs und Improvisationen über Themen wie Wasser, Vögel, Frieden bis hin zu einem Kraken, die alle Beteiligten auf der „brechtbühne“ zur Aufführung brachten. Musiker:innen der Augsburger Philharmoniker meldeten sich freiwillig für das Projekt und erhielten für Workshops und Performances Dienste wie bei regulären Orchesterproben. Fagottistin Julia Nagel-Santarius erinnert sich: „Wir alle – egal, welchen Ausbildungsstand wir am Instrument haben, – können zuhören und aufeinander reagieren und dadurch zu einem Gesamtkonzept wie z.B. dem Thema Wasser beitragen. Das hat uns zusammengeschweißt.“
Ab Sommer 2025 gibt es am Staatstheater Augsburg eine eigene Stelle für Community Arts – als strukturelle Erweiterung von „Plan A“. Entscheidend ist, dass auch Orchestermusiker:innen und Sänger:innen in Community Arts-Prozesse einbezogen werden. Denn Community Arts wirft eine grundlegende Frage auf, die für alle gilt: Was bedeutet es, auch in gesellschaftlicher Hinsicht, Künstler:in zu sein?
Kulturelle Demokratie als treibender Rhythmus
Die Beispiele zeigen, dass Community Music nicht einfach nur mehr Teilhabe schafft. Vielmehr fordert sie Institutionen heraus, ihr Selbstverständnis zu überprüfen: Was ist ihre Rolle? Was, von wem und für wen ist Kunst? Wer entscheidet, wer gehört wird? Erfolgreiche Projekte bilden langfristige Partnerschaften, ermöglichen gemeinsame Entscheidungsräume und verbinden künstlerische Professionalität mit sozialer Verantwortung. Dabei liegt die Wirkung besonders im Aufbau von Beziehungen.
Zugleich wird deutlich: Wandel ist ein langfristiger Prozess, der institutionelles Lernen und Verlernen erfordert. Es geht nicht darum, Menschen einzuladen, sondern Bedingungen zu schaffen, in denen sich neue Formen des Miteinanders entfalten können: Was muss sich an den eigenen Strukturen, Inhalten, Verhaltens- und Sprechweisen und an der Verteilung der Ressourcen ändern, damit Menschen aus marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen Teil eines Theaters oder Konzerthauses sein können und wollen?
Die politische Dimension kultureller Demokratie liegt gerade darin, Machtverhältnisse sichtbar zu machen – und zu verschieben. Wie beim gemeinsamen Musizieren liegt die Kraft nicht allein im Tun, sondern auch in den Pausen, im Innehalten, im Zuhören, im Hineinhorchen. Oder, wie es der Refrain von „Born into Orbit“ ausdrückt: „Immer in kreisenden Bahnen, in ständiger Bewegung, folge deinem Atem, finde deinen Rhythmus und – [Pause].“
Zur Autorin:
© Thomas Eberlein

Anna-Sophia Kraus ist seit Juni 2025 Projektleiterin Community Arts am Staatstheater Augsburg, 2020-2024 baute sie dort den Bereich Musikvermittlung auf. Sie studierte Schulmusik, Violine und Musikmanagement und absolvierte Weiterbildungen in Community Music. Ihre Forschung zu Kultureller Demokratie und Community Music in Kulturinstitutionen führte sie nach England, wo sie Mitglied der Band „The Messengers“ der Guildhall School of Music and Drama war. Sie ist als freischaffende Geigerin aktiv und lehrt Community Music an der Hochschule für Musik und Theater München sowie am Leopold-Mozart-College.
Prof. Dr. Alicia de Bánffy-Hall: „Kulturelle Demokratie vs. Demokratisierung von Kultur“
Beitrag für das Netzwerk Junge Ohren
Der Beitrag von Bánffy-Hall, Professorin für Community Music an der Hochschule Düsseldorf, skizziert, wie Kulturinstitutionen zu einer „Kulturellen Demokratie“ beitragen könnten: u.a. durch eine Umverteilung von Entscheidungsmacht und Ressourcen und eine offene Fehlerkultur. Das Ziel: Musik wieder ins Zentrum der Gemeinschaft zu rücken und ihren Wert für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Leben aller Menschen zu stärken.
Shownotes
- Sigrún Sævarsdóttir-Griffiths ist Gründerin und künstlerische Leiterin von MetamorPhonics, einem Netzwerk von Bands aus Island und Großbritannien mit Studierenden und Menschen in Rehabilitation. Zwölf Jahre lang leitete sie den Masterstudiengang „Leadership“ an der Guildhall School of Music and Drama, wo sie heute das Wahlfach „Social Arts Practice“ verantwortet.
- Matt Robinson baute als Community Musician am Konzerthaus Dortmund das erste Community Music Programm in Deutschland auf. Als Geschäftsführer und Community Musician des Paper Lantern Collective leitet er Initiativen, um nachhaltig soziale Wirkung zu erzielen.
- Zum Begriff des Facilitators: Facilitator schaffen Räume für gemeinsames Musizieren. Sie entdecken Potenziale, ermutigen zum Mitgestalten und finden eine Balance zwischen notwendiger Anleitung und den Impulsen der Gruppe (vgl. https://www.kubi-online.de/artikel/community-music-einfuehrung).
- Prof. Dr. Alicia de Bánffy-Hall: „Community Music: Eine Einführung“, auf: www.kubi-online.de
- François Matarasso: A Restless Art. How participation won and why it matters. London: Calouste Gulbenkian Foundation (2019).
- Prof. Dr. Carmen Mörsch: Diskriminierungskritische Perspektiven an der Schnittstelle Bildung/Kunst. Einführung (2021)