16. Juli 2025

Alle Menschen?

Musik und Demokratie in einer vielstimmigen Nachbarschaft. Ein Beitrag von Bernhard König

Wie kann das sein? Klassische Musik boomt, das Amateurmusizieren verzeichnet ein kräftiges Wachstum, und dennoch wird unser Land nicht demokratischer und weltoffener. Bernhard König beleuchtet am Beispiel der klassisch-europäischen Chormusik verbindende und trennende Faktoren im flüchtigen „Wir“ des gemeinsamen Musizierens – und den Wert von Heterogenität.

 

Die gesellschaftliche Polarisierung wächst, der soziale Zusammenhalt wird kleiner, die Einsamkeit junger Menschen wird zunehmend zu einer Gefahr für die Demokratie. Wollten wir Musikliebenden an dieser Stelle nicht gegensteuern? Hatten wir nicht immer gehofft, Musik sei ein Mittel, um die Menschen auf friedliche Weise zusammenzubringen? Die europäischen Demokratien und die europäische Konzertkultur sind Kinder der gleichen Epoche. Als Ludwig van Beethoven 1824 die Zeile „Alle Menschen werden Brüder“ vertonte, war die Weltbevölkerung erstmals auf eine Milliarde Menschen angewachsen. Zweihundert Jahre später sind es mehr als achtmal so viele. Immer mehr von ihnen leben in großen Städten. Immer weniger Menschen leben dort, wo ihre Vorfahren lebten.

Unsere Musikkulturen und Musikinstitutionen stammen zu großen Teilen aus einer Ära, in der es normal war, unter Menschen zu leben, die an das gleiche glaubten, die gleichen Feste feierten, die gleichen Lieder sangen und von ähnlichen Erfahrungen geprägt waren. Die Welt des 21. Jahrhunderts aber ist nicht nur verletzlicher und ökologisch fragiler geworden, sondern auch vielstimmiger. Diese Vielstimmigkeit kann anstrengend sein. Aber sie eröffnet auch neue Chancen. Unsere vielstimmige Welt ist besonders reich an Erfahrungen, Wissen, Geschichten und Überlieferungen. Sie sorgt dafür, dass Lebenswege und Schicksale sich kreuzen, Perspektiven sich ergänzen, Erfahrungen einander befruchten und Blicke sich begegnen, die sich in einer „leeren Welt“ nicht begegnet wären. Die Vielstimmigkeit unserer Städte und Dörfer ist die größte Chance, die wir haben – vorausgesetzt, wir bejahen und gestalten sie. Mit vereinten Kräften dafür zu sorgen, dass die ehemals „Anderen“ und „Fremden“ zu Nachbarn werden können, ist eine der größten und wichtigsten kulturellen Gestaltungsaufgaben unserer Zeit.

Musik verbindet Menschen. Wenn Menschen miteinander oder füreinander zu musizieren, entsteht ein flüchtiges „Wir“. Diese wunderbare Eigenschaft der Musik wird seit jeher genutzt, um Gemeinschaft zu stiften. Miteinander Feste zu feiern und Andacht zu halten, zu singen und zu tanzen, Konzerte zu erleben und sich noch Tage oder Wochen später davon zu erzählen – dies alles kann zur Vertrauensbildung und Nachbarschaftspflege beitragen. Doch nicht jede Form des Musizierens verwandelt die Singenden oder Musizierenden automatisch in Brüder und Schwestern. Musik kann auch die entgegengesetzte Wirkung haben: Fremdheitsgefühle verstärken sich, unüberbrückbare Differenzen werden auf schmerzhafte Weise spürbar.

Zum Beispiel: Singen

Ein Beispiel für diese Gleichzeitigkeit von verbindenden und trennenden Faktoren ist die klassisch-europäische Chormusik, die der Idee des Miteinanders einen besonders schönen Ausdruck verleiht. Die Stimmen der Singenden verschmelzen zu einem homogenen Gesamtklang, der ihnen die Möglichkeit gibt, ihre Zusammengehörigkeit auf idealtypische Weise zu artikulieren. Im großen Chor ein klassisches Oratorium aufzuführen oder in kleiner Besetzung A-cappella-Jazz zu singen, kann ein starkes und beglückendes Gemeinschaftserlebnis sein, das den Einzelnen mit seinem Körper, die Singenden untereinander und alle Anwesenden mit dem gemeinsam geteilten Resonanzraum verbindet.

Doch was dem einen vertraut ist und ihm ein Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt, kann für die andere fremd, überfordernd oder unerreichbar sein. Ich bin in meinen Projektchören und Workshops immer wieder Menschen begegnet, die leidenschaftlich gerne sangen und sich gewünscht hätten, auch außerhalb eines Spezialprojektes regelmäßig in einem Chor mitzusingen. Dennoch taten sie es nicht. Die Gründe dafür konnten sehr unterschiedlich sein: Sie glaubten, zu schlecht zu singen. Sie konnten keine Noten lesen. Das Konzept der europäischen Mehrstimmigkeit war ihnen fremd. Sie sprachen und verstanden zu wenig Deutsch. Sie fühlten sich zu alt oder es war ihnen nahegelegt worden, sie seien zu alt. Sie waren aufgrund einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung nicht in der Lage, Tonhöhen zu unterscheiden oder ihren Atem- und Bewegungsrhythmus mit dem anderer Menschen zu synchronisieren.

Die Barrieren, die einer Mitwirkung im Wege standen, waren also einerseits sehr unterschiedlich, hatten aber andererseits einen gemeinsamen Nenner: das Streben nach maximaler Homogenität. Chorische Probenarbeit zielt häufig darauf, gemeinsam „sauber“ zu singen, rhythmisch und metrisch „zusammen zu sein“, stimmliche Individualität zum Verschwinden zu bringen und gut verständlich in den gemeinsamen Text einzustimmen – kurzum: Heterogenität auf allen Ebenen der Musik zu vermeiden. An dieser Exklusivität ist zunächst einmal nichts Kritikwürdiges oder Schlechtes. Sie hat sich künstlerisch bewährt und unendlich viel Schönes hervorgebracht.

Doch nicht alle Singbegeisterten wollen unter sich bleiben. Ich habe im Zuge meiner kompositorischen Arbeit viele Chöre, Chorleiterinnen und Choristen kennengelernt, die sich nach neuen Erfahrungen, Entdeckungen und Begegnungen sehnten und sich mit großer Offenheit auf Vorschläge für ein inklusives, interkulturelles und generationsübergreifendes Singen einließen. Oft hatte es schlicht an Ideen gefehlt, die es ermöglicht hätten, Menschen mit einer abweichenden Musikalität oder einem anderen Verständnis von Vokalmusik einzubeziehen. Umso schöner war es dann, gemeinsam zu erleben, welche ästhetische Bereicherung es sein kann, Heterogenität hörbar zu machen: die unterschiedlichen Stimmfärbungen von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren, die sich zu altersspezifischen Klangfarben-Registern arrangieren lassen. Die markanten Unterschiede zwischen orientalischer und europäischer Gesangstechnik, die gezielt eingesetzt werden können, um Abgrenzungen und Brückenschläge zwischen den Religionen zu verdeutlichen. Die stark abweichenden Musikalitäten von Menschen mit und ohne geistige Beeinträchtigungen, die sich zu ganz neuen Formen einer teils komponierten, teils improvisierten Vokalmusik fügen lassen.

Unsere Chorkultur ist es wert, erneuert und weiterentwickelt zu werden. Dazu zählen auch die Ergänzung und Erweiterung eines Schönheitsverständnisses, das die Verschiedenheit menschlichen Ausdrucks bislang als einen Makel erscheinen ließ, den es zu verstecken galt. Wenn das gemeinsame Singen ein Ausdruck verbindender Werte und Ideen bleiben soll, dann muss es Raum für die Vielstimmigkeit unserer Gesellschaft bieten.

Viele musikalische Akteur:innen spüren diesen Veränderungsbedarf und haben ihn sich als Gestaltungsauftrag zu eigen gemacht. Sie nutzen die gruppenbildende Kraft der Musik, um neue Begegnungsformate und -räume zu erschaffen, in denen gerade jene Zusammenkünfte möglich werden, für die es sonst an äußeren Anlässen fehlt: Interreligiöse Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlichen Glaubens, deren Wertesysteme und Überzeugungen stark voneinander abweichen. Interkulturelle Begegnungen zwischen Menschen, die von verschiedenen Herkünften, Traditionen, Sprachen und Erinnerungskulturen geprägt sind. Intergenerationelle Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlichen Alters jenseits der eigenen Familie. Inklusive Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigungen.

Die Kunst des Zusammensetzens

Immer mehr traditionelle Demokratien laufen Gefahr, an der Frage nach dem „Wir“ zu zerbrechen. Für Deutschland belegen soziologische Studien, dass große Teile der Bevölkerung kaum noch ihre eigenen Milieus verlassen. Wir Musikerinnen und Musiker wissen, wie man Menschen zusammenbringt, in Resonanz versetzt, für eine gemeinsame Sache und füreinander begeistert. Also lasst es uns tun und an möglichst vielen Orten unseren Beitrag dafür leisten, dass aus fremdem Nebeneinander vielstimmige Nachbarschaft wird.

Sich mit Andersgläubigen und Andersdenkenden zusammenzusetzen und einander zuzuhören – das kann ein erster Schritt sein, um aus Sprachlosigkeit und Fremdheit herauszufinden. Sich mit den eigenen Nachbar:innen zusammensetzen, auch wenn sie ganz anders singen, feiern und beten, als wir es gewohnt sind – das kann ein erster Auftakt sein, um unsere Dörfer und Stadtviertel lebens- und liebenswerter machen. Sich interdisziplinär zusammenzusetzen, unser Wissen zusammenzutragen und die komplizierten Fragen der Gegenwart in möglichst viele Sprachen, Schönheitskonzepte und Wertesysteme zu übersetzen – das kann dabei helfen, die vielen Herausforderungen unserer Zeit zu meistern.

Musik kann dieses Miteinander unterstützen, indem sie ihm einen kleinen Götterfunken an Schönheit und Freude verleihen. Das macht uns zwar noch nicht gleich zu Schwestern und Brüdern – aber es kann helfen, bei aller Fremdheit angstfrei und respektvoll aufeinander zuzugehen.

Zum Autor:

Bernhard König ist Komponist, Autor und Interaktionskünstler. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht die Frage: Welche Musik wird gebraucht? In wechselnden Teamkonstellationen und in vielfältigen künstlerischen, pädagogischen und sozialen Versuchsanordnungen setzt er sich forschend, experimentierend und komponierend mit wichtigen Themen der Gegenwart auseinander. 2012 initiierte Bernhard König das interreligiöse Musikprojekt Trimum.

Mehr zum Thema:

Der vorliegende Text basiert auf den drei letzten Kapiteln (S. 375ff) von Bernhard Königs Buch „Musik und Klima“, erschienen 2024 in den Verlagen ConBrio und Oekom.

Ein umfassendes Literaturverzeichnis findet sich in diesem Buch sowie frei zugänglich unter https://musik-und-klima.de/home/hintergruende/.

Ich bin ...

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