Ein Tabubruch auf dem Weg zur neuen Gepflogenheit? 

Das Kritische Orchester® versammelt sich 2024 zum 20. Mal zur internationalen Werkstatt für interaktives Dirigieren. Zur Geschichte eines bis heute innovativen Projekts. Von Lisa Valdivia

Es war ein Tabubruch, als 2002 das erste Kritische Orchester® veranstaltet wurde: Orchestermusikerinnen und -musiker kamen erstmalig zusammen, um jungen Dirigiertalenten in Proben ihr Feedback zu geben – eine Situation, die im Arbeitsalltag zwischen Orchester und Dirigentin oder Dirigent nicht per se vorgesehen ist; auch heute nicht, wo das Kritische Orchester® zum 20. Mal zusammenkommt. Aber es hat sich inzwischen eine neue Erwartungshaltung an den Führungsstil von Dirigentinnen und Dirigenten etabliert: Das Verhältnis zwischen Dirigentin oder Dirigent und ihrem/seinem Instrument, dem Orchester, sollte von gegenseitigem Respekt und Vertrauen geprägt sein. Ein Durchsetzungsvermögen, das vor allem auf hierarchischem Druck fußt, wird allgemein kritisch betrachtet. Und so trifft das Kritische Orchester® über 20 Jahre nach seiner ersten Zusammenkunft immer mehr den Nerv der Zeit und ist ein wertvoller Beitrag zur Entwicklung dieser Art der Arbeitsatmosphäre. 

Die Idee stammt von Klaus Harnisch, der sie im Laufe seiner Tätigkeit für das Förderprogramm der Direktion für Theater und Orchester beim Ministerium für Kultur der DDR und ab 1990 für das Forum Dirigieren (damals: Dirigentenforum) des Deutschen Musikrates entwickelte. Es sollte eine Ergänzung zum herkömmlichen Unterricht durch eine Dirigentin oder einen Dirigenten sein und dabei eher eine Werkstatt, bei der sich Dirigierende und Orchester auf Augenhöhe begegnen.

Mit dem damaligen Rektor der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin, Prof. Christhard Gössling, fand der Ideengeber einen Mitstreiter für das Projekt, der es für das Wintersemester 2001/2002 erstmals auf den Veranstaltungsplan der Hochschule setzte. Weitere Unterstützung fand man in den Berliner Philharmonikern, dem Berliner Sinfonie-Orchester (heute Konzerthausorchester Berlin), dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin sowie dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, die 2006 die Schirmherrschaft des Projekts übernahmen. Prof. Christian Ehwald wirkte in den Anfängen des Kritischen Orchesters® als dirigentischer Mentor an der Seite der Nachwuchstalente und nimmt dieses Ehrenamt nun zum 20. Jubiläum nochmal auf . Weitere renommierte Dirigent:innen wie Lothar Zagrosek und Simone Young fungierten in dieser Position mit der gewünschten Zurückhaltung im Hintergrund, um Klavierproben zu leiten und als Ansprechpartner:innen für die Teilnehmenden zur Verfügung zu stehen.

Die Künstlerische Leitung übernahm zunächst Christhard Gössling, damals Solo-Posaunist der Berliner Philharmoniker. Seit 2014, also seit zehn Jahren, nimmt Prof. Lothar Strauß, 1. Konzertmeister der Staatskapelle Berlin, diese Funktion wahr. Dabei galt stets der Grundsatz, dass das Kritische Orchester® künstlerisch autonom arbeitet und entscheidet. Dieser Aspekt wurde mit Prof. Lothar Strauß weiter ausgebaut, indem die Auswahl der Kursteilnehmenden seither von Mitgliedern des Kritischen Orchesters® per Videobewerbungen getroffen wird anstatt von einem externen Gremium im Rahmen von Vordirigaten. Außerdem wurde der Veranstaltung durch einen dreistufigen Aufbau ein Wettbewerbscharakter verliehen: das Orchester entscheidet von Runde zu Runde, welche Dirigentin oder welcher Dirigent in die nächste Runde kommen soll und somit mehr Probenzeit mit ihm erhält.

Bis 2015 machte der Projektbeauftragte Klaus Harnisch gemeinsam mit den vielen ehrenamtlich engagierten Musikerinnen und Musikern diese Dirigierwerkstatt an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin zu einer nachgefragten Veranstaltung. Ihre Umsetzung ging 2016 in die Hände des Forum Dirigieren in Kooperation mit der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin über. Damals wie heute stellt das Projekt auch das Management vor große Herausforderungen, da kein bestehendes Ensemble und dessen Direktion als Mitarbeitende vorhanden sind. So kann man wohl die lückenlose Besetzung des Orchesters mit den ehrenamtlichen Profi-Musikerinnen und -Musikern als die anspruchsvollste Aufgabe bezeichnen, die für dieses Projekt gemeistert werden will.

Wenn man aber das in Fachkreisen große internationale Interesse am Kritischen Orchester® betrachtet, scheint es alle Anstrengung wert zu sein: Waren es 2016 noch 70 Bewerbungen um die Teilnahme als Dirigentin oder Dirigent an dieser Werkstatt, wurde 2022 der Rekord von 190 Bewerbungen erreicht. Hier dürfte zwar noch ein gewisser Corona-Effekt zu vermuten sein, da das Projekt aufgrund der Pandemie 2020 und 2021 nicht stattfinden konnte. Aber auch 2023 bewarben sich 130 Dirigentinnen und Dirigenten, und im Jubiläumsjahr wurden die Teilnehmenden unter 103 gültigen Bewerbungen aus 31 Nationen ausgewählt.

Wie der Journalist Dr. Marco Frei kritisch in der 2. Ausgabe der Accelerando (der Zeitschrift des Forum Dirigieren) analysiert, ist es zwar in Frage zu stellen, ob es „den“ neuen Führungsstil unter Dirigent:innen wirklich gibt. Die Führungsstile sind so verschieden wie die Persönlichkeiten, aber dennoch wird eine allgemeine Tendenz auch in seinen Recherchen deutlich: Dirigent:innen wie Orchestermusiker:innen streben verstärkt nach einem konstruktiven Miteinander und lassen somit Durchsetzungsmethoden aufgrund von Machtgefällen antiquiert erscheinen. Zu dieser Entwicklung leistet das Kritische Orchester® einen enormen Beitrag, für den man den ehrenamtlich mitwirkenden Musikerinnen und Musikern nicht genug danken kann! 

Das Kritische Orchester® wird mit Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie von unisono Deutsche Musik- und Orchestervereinigung e.V. finanziert.

Mehr Informationen zum Kritischen Ochester finden Sie im Jubiläumsmagazin zum 20. Kritischen Orchester - Forum Dirigieren

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